Im Fluss

Ein langer, ein sehr langer Raum mit ungezählten Fenstern, die durch die langen Jahre angetrübt dennoch warmes Abendlicht hereinlassen. Von 3 Reihen à 17 Säulen wird die Decke getragen, es entstehen vier Korridore. In den beiden mittleren davon sind Stühle verteilt, scheinbar zufällig ausgerichtet, jeder etwas anders, alle mit einem Lämpchen versehen, das von der Unterseite des Stuhls den Boden beleuchtet und einem bei zunehmender Dämmerung den Weg zu einer Sitzgelegen- heit weist. Darauf sich ausruhend oder daneben stehend, dazwischen gehend oder dahinter vorbeischlendernd horchen die zahlreichen Besucher und Besucherinnen der Stimme von Hanna Walcher und der Tuba. Wenn man mit grossen Schritten den Raum durchmisst, von einem Ende zum anderen geht, setzt man ungefähr so oft den einen Fuss vor den anderen wie Hanna Walcher Lebensjahre verbracht hat. Die Tuba beginnt, den Raum mit Klängen auszumessen, ihre lang gezogenen Töne werden durch die an Säulen angebrachten Lautsprecher auf die Reise durch den Saal geschickt.

Die Leute verteilen sich im Raum, horchen mal da, gehen mal dort vorbei, sitzen mal hier aufm Stuhl. Die Stimme von Hanna Walcher ist überall, aber nicht überall, wo man ist, hört man dasselbe. Man bekommt das mit, was zu dem Ort gehört, wo man zufälligerweise gerade sich befindet, nimmt eine mögliche Variante der Erzählung mit, hört Ausschnitte aus dem Leben einer Frau und gleichzeitig manchmal, anderswo, aber doch so nahe in demselben Raum eine andere Geschichte, die man auch gerne gehört hätte, jedoch nie schafft, ebenso genau mitzubekommen, während man den näher hörbaren Worten folgt.

Der mehrstimmige Raum bricht die chronologische Zeitordnung auf. ‚Das Leben’ der Hanna Walcher ist nicht das, was wir hören. Es wäre vielleicht das, wenn wir alle Hörpunkte nacheinander hören könnten. Aber auch dann ist’s nicht vollständig, eine Lebensgeschichte kann eigentlich gar nie fertig sein, nie erschöpfend dargestellt werden. Immer nur sind es einzelne Bilder, die wir den anderen Menschen ausmalen, ausgesuchte Episoden von uns mit Lücken dazwischen.

Und die Erinnerungen wandeln sich, gehen vergessen, tauchen wieder auf, sind ein unsicherer Überrest der Vergangenheit, sie haben ihre eigene Geschichte und ihre jeweilige Rolle im Leben eines Menschen. Je nach Zeitpunkt und Ort trifft man eine Wahl dessen, was man für erzählenswürdig oder wichtig erachtet. Wo man auch sitzt, gibt’s eine Geschichte, aber nie die ganze, nie das komplette Leben, sondern die eigenen Vorlieben für Stühle und Orte im Raum ergeben die Perspektive der Erinnerung an Hanna Walcher, die wir mitnehmen werden. Manchmal verfolgen wir die Lautsprecherechos im Raum, manchmal übertönt die Tuba einzelne Worte, die uns entgehen, die wir so gerne gehört hätten, aber zusammen mit den unbeantworteten Fragen in der Sphäre des Ungeklärten und Unerklärten bleiben, was notwendig jedes Leben ausmacht. Die Geschichte dieser Frau hat plötzlich mehr Protagonisten als sie selbst: den Raum, die Hörinstallationen an verschiedenen Orten, das sich bewegende Publikum, die Tuba.

Wenn der Saal das lange Leben einer Glarnerin umfängt, befinden sich die Stühle jetzt, da die Tuba und die Stimme verstummt ist, wie kleine leuchtende Punkte im dunkel gewordenen Erinnerungsraum ihrer Geschichte. Gleichartige Stühle und doch immer anders hingestellt, die wiederkehrenden Situationen in 90 Jahren, aber doch jedesmal ein bisschen anders. Nach und nach waren die Leute im Dämmerlicht unschärfer geworden, glichen sich gegenseitig ein bisschen an, waren mit der zunehmenden Nacht nicht mehr so klar erkennbar mit allen Einzelheiten, geradeso, wie die Konturen der Erinnerung am Ende eines langen Lebens allmählich verwischen. Stützpunkte gibt es aber immer noch, einzelne Lämpchen und Wegmarken und Ruhestätten als sichtbare Orte im Raumpoem, als erinnerte Ausschnitte aus einem Leben, die das Publikum mitnehmen wird, jede Person ein bisschen anders.

Ariane Tanner, Historikerin

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