Vom Hier und Jetzt in Giswil

#5 Angela Hausheer

Wir, die Zuschauer, sitzen in der Turbinenhalle auf Bänken einander gegenüber. Wir warten. Dann kommt Angela Hausheer den langgezogenen Raum der Halle entlang auf uns zu. Sie trägt ein Bündel Metallrohre von unterschiedlicher Länge. Zwischen uns kommt sie zum Stehen und löst die Trageschnüre, welche die Rohre zusammenhalten. Vorsichtig, leise. Unerwartet beginnen die Rohre mit einem unerträglich lauten Metall-auf-Beton-Geräusch auf dem Boden entlang zu schlittern. So viel Energie von 0 auf 100. Die Zuschauer folgen jeder Bewegung der Performerin, jedem entlanggleitenden Metallrohr. Klang oder Geräusch? Ist das Musik? Ist das ein Spiel? Ihre Stimme baut sich laut über uns auf. Angela Hausheer spricht vom Untergrund, vom Boden und der festen Verankerung am Boden. Gedanklich und erklärend bohrt sie sich vom Boden in die Tiefe. Sie ist laut, schreit fast; ist rauschend und bedrohlich wie ein Fluss. «Der Untergrund ist das Werk. Über mir ein See», erklärt sie und lacht schrill. Alle ihre Erklärungen werden begleitet von konzentrierten, theatralen Zeigegesten. Ein Kraftfeld entsteht zwischen ihrer Stimme, ihren Gesten und uns, den Zuschauern. Die Rohre am Boden bilden eine Form. Ein Pfeil? Nein. Ich suche nach Bedeutung. Soll es eine Wasserleitung darstellen? Die Performerin beginnt in eines der Rohre zu blasen, ihre Knie am Boden. Didgeridooklänge gehen über in ein lautes, schrilles, Schreien. So viel Energie von 0 auf 100. «Druck!», ruft sie und baut diesen in ihrem Körper auf, voller Anspannung und scheinbar vollen Lungenflügeln. Mit zwei Rohren in der Hand baut sie schließlich Druck ab. Sie bläst abwechselnd durch die Rohre – links, rechts – und schreitet ans Ende der Turbinenhalle. Sie bleibt stehen und schreit. Erinnert mich an einen archaischen Urschrei, wie der Schrei einer Göttin, laut, schrill, durchdringend, dann zart, feenhaft. Eine Zuschauerin schließt die Augen, ein Mann tut ihr gleich. Die Performerin schreitet an uns vorbei zum anderen Ende der Halle und öffnet die roten Tore. Befreiende Schreie in die Weite. «Die Spannung ist nicht immer dieselbe» erklärt sie und ich denke mir, dass sie Recht hat. Als sie geschrien hat, lag bei weitem mehr Spannung in der Luft. Sie spricht von Transformation und ich denke an die Spannung, die in ihrer Stimme lag, an die Spannung im Raum. Sie spricht von elektrischer Spannung und zeigt den Zuschauern einen kleinen Gegenstand in ihren Händen, den sie als Elektron identifiziert. Sie öffnet das Fenster, geht hinaus und klettert von außen bis zum Fensterbrett. Die Zuschauer werden nun aufgefordert eine «gerade Kurve» mit den Rohren zu bilden. Zunächst noch etwas zögerlich greifen einige Zuschauer nach den Rohren und folgen dem Spiel, der Herausforderung, das Elektron durch die Rohre in die Zentralschweiz zu schicken. Immer mehr wollen Teil des Projekts sein und halten die Rohre – angefangen bei Angela – zu einer «geraden Kurve» zusammen. Das Elektron findet seinen Weg durch das Gemeinschaftsprojekt der Rohrbahn. Die Leute applaudieren für das Elektron, dann für Angela Hausheer. Für mich bildete sich in Angelas Performance ein Zirkulationsraum aus, zwischen Spannung und Entspannung, Energieaufbau und Energieverlust, Kraft und Getragenheit.

Alisa Kronberger, Medien- und Kulturwissenschaftlerin – September 2016

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