Aus dem Schweigen heraus sprechen

Aus dem Schweigen heraus sprechen … ein gedankliches Experiment, das bei den verwendeten Worten ansetzt und sie als begriffliche Setzung begreift – dann gerate ich ins Staunen. Aus der Stille heraus sprechen ist etwas, das wir gewohnt sind. Oder in die Stille hineinsprechen. Niemand sagt etwas, keine sonstigen Geräusche. Stille. Kein Laut bahnt seinen Weg durch den Raum, dringt an mein Ohr. Das ist meine Auffassung von Stille, und doch nicht. Denn in der Stille kann immer eine Art elektrostatischer Ton im Ohr summen, ein etwas nervöses Dauerziepen, eindringlich, von zeitlicher Persistenz und heller Klangfarbe. Müsste ich eine Farbe zuordnen, dann würde ich ein regenbogenfarbiges Spektrum wählen, leicht psychodelisch anmutend. Farbverläufe morphen vorm geistigen Auge, Bildschirm-Schoner-Motive. A never ending story. You have all the time of the world. Oder eben auch nicht. Denn auch Stille ist endlich, wird aufgebrochen, unterbrochen von Geräuschen, Sprache. Jemand ergreift das Wort, nimmt es in den Mund, lässt es durch die Mundhöhle gleiten. Phoneme berühren den Gaumen, die Zunge und die Lippen bringen sie nach draussen. Artikulation. Von etwas sprechen, über etwas sprechen.

Das Schweigen ist von anderer Konsistenz, es resultiert aus dem aktiven Akt, nicht zu sprechen, die Worte nicht aus der Mundhöhle herauszulassen. Die Hand vor dem Mund, die Worte abblocken, die herauswollen, gebremst von der Handinnenfläche. Ist der Mund offen oder geschlossen? Wann bremse ich die lautliche Ent-Äusserung? Oder aber: Keiner Worte mächtig sein, keine Sprache finden. Im Schweigen Zeit und Raum Möglichkeiten ihrer Entfaltung geben, sich eine Auszeit geben. Was bedeutet es, aus dem Schweigen heraus zu schreiben? Beschreibt das nicht eventuell die Situation, in der ich mich regelmässig vor dem Computer wiederfinde? Ein Computer ist keine Gesprächspartnerin, sie nimmt auf, was ich ihr zu füttere. Sie spiegelt mich, meine Gedanken, von Fingern übertragen in schriftliche Sprache. Komplexe Abläufe, so einfach beschrieben: an etwas denken und dann tippen. Aber so simpel ist das nicht, denn eigentlich ist der Bildschirm das Schweigen, in das ich hineinspreche, hineinschreibe. Und so fange ich an, mit dem Bildschirm – oder besser über den Rand des Screens hinaus – zu sprechen. Ich spreche halblaut in das Schweigen des Raumes, der von meinen Bildern und Gedanken keine Ahnung hat, der weder mein Ringen um Formulierungen noch meine Versuche der gestischen Vergegenwärtigung kennt. Mit geschlossenen Augen imaginiere ich, rekonstruiere Eindrücke, Beobachtungen und Zusammenhänge. Doch ganz wichtig: Die Augen dürfen nicht fest zusammengekniffen sein, die Liddeckel liegen leicht und eher lose über den Augäpfeln. Nur so kann ich mich in die entsprechende Situation, den Ort, über den ich schreiben möchte, hineinversetzen. Im Schweigen meines Ateliers bewegen meine Hände imaginierte Kunstwerke, ich drehe sie wie Objekte in einer VR-Simulation. Doch alles das geschieht auf der Innenseite meiner Augenlider, die die Folie meiner gedanklichen Projektionen bilden. Und fast automatisch öffnet sich mein Mund, murmelt in den stillen Raum hinein, entbindet mich von dem Schweigen, das ich mir selbst auferlegt habe um den «Bildern» genügend Zeit und Raum zu geben.

Schweigen kann eine Qualität besitzen, es markiert die nötige Atempause, bevor die Synapsen wieder zu klickern beginnen. Es kann auch ein einfaches Innehalten sein, kurz den Atem und damit die Artikulation in sich selbst verschlucken, ohne Hinunterwürgen, nur in der Mundhöhle diese Luft spüren und damit gurgeln. Dann bahnt sich die Sprache wieder ihren Weg, findet mit Hilfe von gestischer Unterstützung ihren Raum, der ausserhalb der Mundhöhle liegt, nicht mehr nur «angesprochen», mit einzelnen Atemschüben oder Silben angekündigt, verheissungsvoll und doch unvollständig.

Aus dem Schweigen heraus sprechen meint für Angela Hausheer sicher etwas anderes als für mich, als jemand der regelmässig vor dem Computer sitzt und schreibt, mit ihr – denn mein Computer ist weiblich – spricht. Dennoch scheint mir, dass Angelas Formulierung eines «aus dem Schweigen heraus sprechen» nicht grundsätzlich different ist zu meiner Schreiberfahrung, die auch bedeutet, sich in unterschiedliche Entitäten aufzuspalten, die «Sprecher-Position» einer künstlerischen Arbeit einzunehmen und zugleich die Perspektive der Betrachterin nicht aus den Augen zu verlieren. Insofern kann Angelas Formulierung (und dazu ist noch zu sagen, dass es sich um einen Satz in einer rund eine Stunde dauernden Performance handelt) auch dazu auffordern – und das ist mein persönliches Fazit –, dem eigenen Schweigen und nicht der äusseren Stille, dem eigenen Herunterfahren der «Systeme» und den daraus resultierenden Effekten einen Raum in der sprachlichen Auseinandersetzung zu geben.

Aus dem Schweigen heraus sprechen bedeutet auch, sich selbst Zeit zu geben. Denn die Dauer des Schweigens ist keine verschwendete Zeit, kein Leerraum, in dem nichts passiert, sondern eine Art stilles Gefäss, in dem Innehalten und Um-Sich-Blicken ebenso relevant und wirkungsmächtig ist wie der Impetus, der einen dazu treibt, diesem Schweigen wieder mit Sprache, Gedanken und Beobachtungen, mit Hypothesen und Assoziationen zu begegnen.

Irene Müller, März 2018

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