Was ich sehe: Kleidungsstücke, auf dem Boden liegend, auf einen Stab aufgerollt, auf Stangen in Ecken des Raumes angebracht, im Einweckglas. Mal Hose und Mantel, mal verschiedene transparente Hüllen übereinander, mal einen Rock, Rüschen, grobes Tuch, glattglänzender Stoff, gelb, weiss, braun, pink, orange.
Was ich weiss: Diese Kleider kleideten einmal Angela, als sie Schauspielerin war. Sie wurden für sie nach Mass geschneidert, ihr auf den Leib geschnitten, damals, als sie noch (eine) Schauspielerin war. Jemand hat sich zu jener Zeit etwas zu Angelas Rolle gedacht und ihr für den Bühnenauftritt ein Gewand zugedacht, das zum Kostüm der Schauspielerin wurde.
Was ich vermute: RegisseurInnen, KostümbildnerInnen, DramaturgInnen haben entschieden, was Angela trug, das heisst, was sie tragen sollte, weil sie eine gewisse Rolle in einem gewissen Theaterstück hatte. Codes von Kleidungen wurden und werden transportiert durch die Wahl des Stoffes mit einer bestimmten Farbe, einer bestimmten Beschaffenheit, einer bestimmten Qualität. Diese Codes sollten auch vom Publikum im Rahmen des Stücks verstanden werden.
Was ich nicht weiss: Wie sich Angela damals in dem Kostüm fühlte und welche Rolle sie als Schauspielerin, dasselbe tragend, in welchem Theaterstück verkörperte. Doppelt unbekannt also: die tragende Rolle.
Was ich tat: Eine Handlungsanweisung für ein mir überbrachtes Kleidungsstück formulieren («das pinke Kleid»).
Was ich beobachte: Die Umsetzung der Handlungsanweisung im Video, während die Gewänder im Raum sind und Angela live performt.
Das ergibt Überlagerungen von Schichten materieller und erinnerungstechnischer Art.
Die Performerin, von der man weiss, dass sie einst Schauspielerin war, performt parallel zu den Videos, worin sie Handlungsanweisungen ausführte, die von einer externen Person zu einem Kleid formuliert wurden, das wiederum Angela trug, als sie auf der Bühne Anweisungen als Schauspielerin erhielt.
Das Kleid, das wir sehen, war damals ein Kostüm, das Angela nicht nur anzog und kleidete, sondern sie schlüpfte darein vor dem Auftritt, um jemand anderen zu verkörpern.
«Ich erinnere mich an den Moment vor dem Auftritt.»
«Ich erinnere mich, wie ich unter den Händen der Maskenbildnerin mich verwandle.»
Mit dem Malen von Falten erzielt man im Zweidimensionalen eine Wahrnehmung von Raum. Ohne die Falten im Stoff des Gewands auf dem Gemälde ist kein Körper darunter zu vermuten. Erst die Bewegung im Kleid, die Berge und Täler und Schattenwürfe dazwischen, konturieren einen Körper. Und umgekehrt wird erst durch einen Körper in einem Kleid das Kleid selber als solches sichtbar. Der Körper informiert das Gewand über seine Ausgestaltung, seine Formen und Längen. Das Gewand wiederum umhüllt den Körper und zeigt das, was nicht verhüllt ist, deutet gleichzeitig an, was darunter ist und gestaltet die Erscheinung der Person. Das Kleid passt sich an und gestaltet und wird geformt.
Wer ist es, der dieses Gewand trägt?
«Bin ich jetzt d’Figur oder d’Angela?»
«Ich war eine Schauspielerin» steht auf Angelas T-Shirt während der Performance, sowohl auf der Rücken- wie auch auf der Brustpartie. Sie ist heute in der Vergangenheitsform angeschrieben in ihrer damaligen Funktion, sozusagen «im Sandwich dieses Satzes» performend, sagt eine Besucherin. Wir sehen Angela wandeln von Kleid zu Kleid. Im Heute, im Jetzt zwischen den Stoffen, die in der Vergangenheit eine Bedeutung auf der Bühne und für sie selbst hatten.
«Ich erinnere mich, wie ich mich auf der Bühne in einen Kollegen verliebte.»
Das Kleid transportiert Erinnerungen an ein Theaterstück, an eingeübten Text, an Regieanweisungen und Gesten und Bewegungen, passend zum Text, an ein Dasein in vergangenen Zeiten als Schauspielerin, die auch von einem bestimmten Geschmack von Nudeln und von der Erinnerung an «Red Bull, gestreckt mit Sekt» geprägt waren.
Was sehen wir heute?
Die Person, die Schauspielerin «war» und neu damit in Berührung kommt, was ein Vehikel der Schauspielerinnenrolle war: das Kostüm. Neu hineinschlüpfen, anders hineinschlüpfen, neue Räume auskundschaften, neue Texte dazu sprechen. Angela sprechend darüber, dass sie nun, in einem ehemaligen Kostüm Räume ertastend, sich erinnern könnte, wenn sie wollte. Aber die konjunktivische Erinnerung bleibt Rhetorik, bleibt Hypothese, wir erfahren nichts Sprachliches über die unmittelbare Erfahrung während dem In-Berührung-Kommen mit einem Erinnerungen transportierenden Kleid. Aber es gibt die Versprachlichung der Möglichkeit der Versprachlichung, wenn sie «wollte», wie sie sagte, «könnte sie das jetzt sagen»; sie könnte darüber sprechen, was sie an Erinnerungen oder Gefühlen mit diesen Kleidern hat. Im Konjunktiv bleibt, was eine Identifikation erlaubte. Es entstehen neue Ein- und Ausblicke, neue Skulpturen von Stoffen, neue Objekte aus Kleidern, worin Angela für einen Moment lang wohnt.
Man habe sie jeweils falsch eingeordnet: wenn sie Deutsch in Deutschland sprach, dachte man an eine Polin, wenn sie Schweizerdeutsch in der Schweiz sprach an eine Dänin, wenn sie Französisch in Frankreich sprach, ordnete man sie Irland oder Kanada oder so ähnlich zu. Die Sprache, der Dialekt: ein Heimisch Sein in verschiedenen Idiomen, ein Nicht-heimisch Sein in den Ohren von anderen.
«Ich erinnere mich, dass ich immer gerne sang.»
Angelas Geschichte als Schauspielerin, die sie heute als Performancekünstlerin wieder aufnimmt, damit handelt, vermittelt durch das Kostüm, begleitet von Erinnerung und Sprache. Transportierte Geschichte, die nur sie kennt, hervorgeholt durch das Kleid, an eine andere Person übergeben, zurückerhalten mit einer Handlungsanweisung, neu aufgerufen durch die performative Handlung und damit transformiert und neu kontextualisiert.
Das Kleid ist kurz, pink, hat einen runden Ausschnitt, der Stoff glänzt. Es liegt auf dem Boden. Berühre es nie mit den Händen! Kann man in ein Kleid schlüpfen, ohne die Hände zu gebrauchen, angefangen mit dem Fuss, der sich zwischen die Stoffbahnen schiebt, bis er zum Halsteil herausschaut, um dann wegzugehen und das Kleid mitzuschleppen oder aber zerknüllt liegen zu lassen? Nicht ganz einfach, so etwas nicht wie einen Übergriff aussehen zu lassen, zumal das Kleid kurz und pink ist und den Körper darin betonen wird – soweit die Codes. Jetzt aber ist es nicht an einem Körper, sondern ausgebreitet auf dem Boden, flach, faltenlos.
«…nie gewusst, wohin mit meinen Händen.»
Das pinke Kleid. Nicht mit den Händen. Eine Auslegeordnung zunächst mit feinen Zehen, genau, sorgfältig, bis es da liegt und von oben anzuschauen ist. Der nackte Fuss zwischen den Stoffbahnen, ein Balanceakt auf einem Bein. Angela, wie sie zum Video der umgesetzten Handlungsanweisung auf dem Rücken liegend jetzt sich selbst in das pinke Kleid schiebt, während im Video dasselbe Stück Stoff mit dem Fuss aus dem Bild geschoben wird und verschwindet.
Überstreifen oder abstreifen? Rollenspiel zwischen Schauspielerin und Performancekünstlerin.
«…sehr viel Spass bei Ausflügen in die Landschaft, die das Theater umgaben.»
Das figurbetonende Kostüm für die Figur auf der Bühne. Das Kleid, welches jetzt im Raum drapiert und im Video zu sehen ist sowie performativ behandelt wird. Das Kleid als Mittlerin zwischen den verschiedenen Rollen als Künstlerin während einer Biographie. Es hatte einen bestimmten Zweck, transportiert Erinnerungen, wird neu inszeniert, befragt und verhandelt, wodurch neue Erinnerungen geschaffen und ältere verändert werden. Träger des Kleides und der Erinnerungen ist aber der Körper, der selbst seither seine Geschichte schrieb. Er war und ist die Ausdrucksform für das Kleid, mit Gesten, Stimme, Bewegungen, Handlungen. Der Körper stellt die Kontinuität in dieser Geschichte her. Das Kleid umhüllte ihn damals wie heute: den Körper als Ort der Biographie.
Ariane Tanner, 15. Mai 2018